< 23. Wissenschaftliches Symposium des dbs

12.12.2022

Nachruf und Danksagung an Luise Lutz

Nachruf und Danksagung an Luise Lutz

20.09.1931 – 08.11.2022

 

Pionierin – Missionarin – Mentorin

Luise Lutz konnte begeistern und sich begeistern, sie unterstützte und förderte, lachte gerne und machte unendlich vielen Mut, Patienten*, Angehörigen und Kollegen.

Die letzte Zeit verbrachte sie bei ihrem Sohn und seiner Familie in Bad Reichenhall, weiterhin tätig und neugierig, wieder mit einer Praxis, wieder im Einsatz für Patienten. Nun ist Luise Lutz am 8. November mit 91 Jahren verstorben. Wir blicken zurück auf eine außergewöhnliche Frau und ihren von Fleiß, Energie und Einsatz geprägten Lebensweg.

Schon die Stationen und Themen ihres Studiums zeigen, wie umfassend sich Luise Lutz in die Bereiche Linguistik, Psychologie, Sprachheilpädagogik und vergleichende Sprachwissenschaften vertieft hat, bei Studienaufenthalten in Hamburg, Edinburgh, Paris und Brüssel. Frühe Werke waren: ‚Dimensionen der Textbeurteilung und ihre Beziehungen zu objektiven Textmerkmalen‘ (1977) und ‚Zum Thema „Thema“‘ (1981). Sie kannte sich hervorragend aus in den Theorien von Bühler, Mathesius, Jakobson, Clark, Chomsky und vielen anderen; englische, amerikanische und französische Texte waren ihr bekannt. Die so gewonnen profunden Erkenntnisse mündeten dann in ihre durchdachten und wegweisenden Beiträge zur Aphasiediagnostik und -therapie.

Pionierarbeit leistete sie standhaft und tapfer in den Kliniken, in denen sie tätig war. Studierte oder gar promovierte Sprachtherapeuten gab es damals noch nicht viele. „Ihren Doktortitel wollen Sie doch hier nicht führen?“ fragte ihr damaliger Chef sie bei der Einstellung, der ihre umfassenden Kenntnisse wohl erkannte und gerne nutzte. Doch, sie wollte…

‚Nebenher‘ war sie, die allein erziehende Mutter, Lehrbeauftragte an verschiedenen Universitäten. Sie arbeitete in der Angehörigenberatung und jahrelang mit großem Enthusiasmus in den entstehenden Selbsthilfegruppen, half bei der Zeitung der Gruppen und gab ihr Wissen in zahllosen Seminaren an Logopäden, Sprachtherapeuten, Ärzte und interessiertes Klinikpersonal weiter. 2003 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz für ihren unermüdlichen Einsatz.

Mit Hilfe eines großzügigen Stipendiums und einer Auszeit  von der Klinikarbeit hatte sie, die Pionierin und Missionarin, dann endlich Zeit, ihr Buch ‚Das Schweigen verstehen‘ zu schreiben (erste Auflage 1992), das sich zu einem Standardwerk entwickelte und für jede weitere Auflage gründlich überarbeitet wurde.

Im Geleitwort zur dritten Auflage (2004) schreibt Professor Wolfgang Schlote: Eine wichtige Funktion des Buches von Frau Dr. Lutz ist zu zeigen, dass es bei der Sprachtherapie nicht um vordergründige Trainingsprogramme mit naheliegenden Übungsaufgaben geht, sondern um einen systembezogenen Sprachaufbau aufgrund linguistischer Kenntnisse über Spracherwerb, Sprachstruktur und kognitiven Hintergrund.

Ja, das Buch war ein Segen für viele, Patienten, Angehörige, Therapeuten, Ärzte,  die mehr über Aphasie, Neurolinguistik, Therapie und Angehörigenarbeit wissen wollten. Ein hervorragendes Fachbuch, anschaulich, verständlich, lebendig, warmherzig, mit unzähligen Beispielen, Bildern und hilfreichen Hinweisen über den Umgang mit der Sprachstörung und vor allem mit den Betroffenen. Es wurde ein großer Erfolg.

Ab 1996 war Luise Lutz dann in eigener Praxis tätig, wo sie auch viele Intensivtherapien durchführte, mit Patienten, die extra anreisten und jeden Tag mehrere Stunden lang therapiert wurden. Außerdem gab sie weiter Fortbildungen und Seminare in ganz Deutschland und betreute als Mentorin Diplom- und Magisterarbeiten.

Als Weiterführung ihres Buches ‚Das Schweigen verstehen‘ entwickelte Luise Lutz dann, aus der Theorie für die Praxis, das MODAK-Programm. Warum wurde das MODAK-Programm (Modalitätenaktivierung in der Aphasietherapie, 1997), konzipiert für mittel- bis schwer gestörte Betroffene, so beliebt und erfolgreich? Die lange verbreitete Deblockierungsmethode (E. und A. Weigl), beruhend auf Nachsprechen und Benennen auf Einwortebene, war damals, bevor linguistisch Ausgebildete Therapeuten wurden, die einzige Methode in der Sprachtherapie, jedenfalls im deutschsprachigen Raum. Das MODAK-Konzept von Luise Lutz arbeitet von Anfang an im Satzzusammenhang (Thema-Thema!) und verknüpft immer mindestens zwei Modalitäten. MODAK wurde so beliebt und erfolgreich, weil die Patienten endlich  Kommunikationspartner waren und damit motiviert wurden, ihre Therapie mitzugestalten.

Zahllose Therapeuten waren froh, weg von den Benenn- und Nachsprechübungen hin zu Dialog und Kommunikation  zu gelangen, denn das Ziel der Therapie ist die gelungene Kommunikation und nicht der korrekte Satz! Es war ein langer  oft beschwerlicher Weg, diese Erkenntnis durchzusetzen. Luise Lutz war der festen Überzeugung, dass die Motivation des Patienten auch von der Therapiemethode und dem Vorwissen des Therapeuten abhängt. Mit Engagement plädierte sie für den lebendigen Einsatz von Zeitungsartikeln, manchmal auch eben nur Überschriften, von Bildern, Gedichten, Stories, Witzen, Satire etc. in der Therapie. Mit detektivischem Gespür fand sie heraus, was den Patienten interessierte, wo man ansetzen konnte, um die Betroffenen mit auf den Weg zu nehmen.

2010 veröffentlichte sie dann „Grammatik im Dialog“ mit erweiterten Übungen zu MODAK, eine große Hilfe für viele Therapeuten, die in immer enger getakteten Therapiesitzungen weniger Zeit haben, Übungen selber zu entwickeln.

Auch ich bin Luise Lutz für ihr Vertrauen, ihre Unterstützung, Ermutigung und Hilfe als Mentorin unendlich dankbar. Zufällig auf Empfehlung einer Kommilitonin kam ich ca. 1986 in eines ihrer Seminare an der Universität Hamburg, in welchem sie Audioaufnahmen von Aphasikern vorspielte und erläuterte. Ich war fasziniert und neugierig, Linguistik wurde auf einmal lebendig und mit der Praxis verbunden.

Anfang der neunziger Jahre hat sie mir ihren Lehrauftrag zum Thema „Sprachstörungen bei hirnorganischen Erkrankungen“ am Germanistischen Institut der Universität Hamburg überlassen, obwohl ich gar nicht Germanistik studiert hatte („Das machst du schon!“), ebenso hat sie Andreas Winnecken und mir vermittelt, ihre Seminare „Neurolinguistik für Neuropsychologen“ ab 2010 zu übernehmen, sie hatte sich bereits wieder neuen Aufgaben zugewandt.

Sie nahm gerne an unserer Kollegenrunde (Lingo-Stammtisch) teil, die sporadisch in Hamburg stattfand - in den letzten Jahren coronabedingt leider sehr selten - wenn sie nicht, wie oft,  für ihre Seminare unterwegs war. Caro Koehn, Martina Mann, Anna Hilbert, Andreas Winnecken und ich, wir erinnern uns sehr gerne an unsere fröhlichen und fruchtbaren Abende mit Luise.

Sie war sehr herzlich, neugierig, interessiert und unterstützend, immer ging es ihr um fachliche Belange, Smalltalk habe ich bei ihr nie erlebt. Sie wollte wissen, was bei uns in den Kliniken los ist, was wir lesen oder woran wir arbeiten und fragte uns auch um Rat.

Wir alle erinnern uns mit Wärme und Wehmut an Luise Lutz.

Martina Mann aus Lübeck schreibt:

Ihre Begeisterung war ansteckend, und in ihrem Einsatz für die Patienten war sie mir stets ein Vorbild. Noch heute zitiere ich sie: Immer bei der Sache bleiben und nicht selbstgefällig werden.

Caro Koehn aus Hamburg führt aus:  

Nach meinem Empfinden stand für Luise nie im Vordergrund zu zeigen, dass sie das Rad erfunden hatte (auch wenn es ihre Erfindung war), es ging ihr vor allem darum, dass es den Patienten helfen möge. Ihre Neugier galt Strukturen und Prozessen. Sie wollte wirklich wissen, was diese sprachlosen Mitmenschen zu sagen hatten, sie wollte ‚das Schweigen verstehen‘.

Andreas Winnecken, Hamburg, schreibt dazu:

Luise war für mich die ‚Grande Dame‘ nicht nur der Aphasiologie, sondern in gleichem Maße auch der kognitiven Neurolinguistik.
Luise war eigenwillig. Sie strotzte vor Energie und Leidenschaft in ihrer Profession – Luise brauchte kein stützendes Institut, sie war ihr eigenes Institut, aus dem für die heranwachsenden KollegInnen einzigartige, für einige nicht gleich erkennbare Botschaften gesendet wurden.
Wir alle haben Luise viel zu verdanken. Luise hat eine ganze Generation im Bereich der Aphasiologie und im Bereich der kognitiven Neurolinguistik inspiriert und geprägt. Liebe Luise: Vielen Dank für alles!

Liebe Luise Lutz, wir werden Dich nicht vergessen!

 

Hamburg, im Dezember 2022

Silke Gosch-Callsen
Klinische Linguistin BKL/dbs
sgosch-callsen@t-online.de


* Auf Bitte der Verfasserin wird in diesem Nachrufausnahmsweise auf die gendergerechte Sprache verzichtet.


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