28.11.2023
Versorgung neu denken! Politik und Verbände diskutieren die Zukunft der Heilmittelberufe
Gesundheitsminister Lauterbach stimmt in seinem Grußwort zum SHV Therapiegipfel der Vollakademisierung der Logopädie zu! Die spezifischen Gegebenheiten in der Logopädie sprechen dafür eine Vollakademisierung anzustreben. Diesen Willen habe der Gesetzgeber auch in der Begründung zum Pflegestudiumstärkungsgesetz deutlich zum Ausdruck gebracht, so Lauterbach.
Klare Worte des Ministers, die wir in der Deutlichkeit noch von keinem Gesundheitsminister gehört haben. Eine jahrzehntealte Forderung des dbs und der gesamten Berufsgruppe ist nun politisch erhört worden.
Es bleibt zu hoffen, dass der klare politische Wille jetzt auch zeitnah in konkrete Gesetzgebung umgesetzt wird.
Wir werden uns sehr dafür einsetzen, dass die ersten Schritte noch in dieser Legislaturperiode sichtbar werden. Der Applaus für die Worte des Ministers auf dem Therapiegipfel sollten dabei als Motivation für anstehende Arbeit im Bundesministerium für Gesundheit dienen.
Ein Bericht des SHV zum 5. Therapiegipfel
„Der Therapiegipfel ist für die Heilmittelerbringer das gesundheitspolitische Highlight des Jahres.“ Mit diesen Worten begrüßt der SHV-Vorsitzende Andreas Pfeiffer alle anwesenden Gäste, Diskutanten und Funktionäre aus Verbänden und Politik zum 5. SHV-TherapieGipfel in Berlin. Vor vollen Rängen folgte auf eine kurze Bilanzierung der gemeinsam erreichten Ziele der vergangenen Jahre der Ausblick auf die bevorstehende Podiumsdebatte. Bezugnehmend auf das diesjährige Leitmotto der Veranstaltung Versorgung neu denken! erneuerte Pfeiffer die zentralen Themen und Forderungen, die seitens der Heilmittelerbringer an die Politik ergehen. Denn von ihrer Erfüllung hängt wesentlich ab, wie es um die Versorgungssicherheit im Gesundheitswesen zukünftig bestellt sein wird. Die Liste der Themen ermöglichte eine spannende Diskussion: Mehr Anerkennung für die Berufe und Mitbestimmung im G-BA, Verbesserung der interprofessionellen Zusammenarbeit, Bürokratieabbau, Direktzugang und Digitalisierung – um hier nur einige zu nennen.
„Allein die doppelte demografische Herausforderung – die Alterung unserer Gesellschaft und die Alterung unserer Berufsgruppen – erfordern es, Versorgung neu zu denken.“ (A. Pfeiffer)
Lauterbach kündigt unter anderem Vollakademisierung der Logopädie an
„Wir nehmen uns die Reform der Berufsausbildungen Schritt für Schritt vor und fangen damit sofort an. Noch in diesem Jahr werden wir einen Entwurf für die Physiotherapie vorlegen.“ (K. Lauterbach)
Per Videobotschaft setzte Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach noch vor Beginn der Podiumsdiskussion Wegmarken, an denen sich die Politik seines Ministeriums zukünftig wird messen lassen müssen. Im Rahmen des geplanten Versorgungsgesetzes stellte er etwa den Direktzugang konkret in Aussicht – vorläufig noch im Modellvorhaben. An die Reform der Berufsgesetze der Physiotherapie, so der Gesundheitsminister, sollen sich die Reformen von Logopädie/Sprachtherapie und Ergotherapie „zeitnah anschließen“ (K. Lauterbach). Bereits im Vorfeld der schrittweise durchzuführenden Berufsreformen würden mit dem Pflegestudiumstärkungsgesetz die akademischen Ausbildungsangebote in den Heilmittelberufen vom Modell- in den Regelzustand überführt. Inhaltlich vage blieb dagegen, was mit den „maßvollen Anpassungen“ (K.- Lauterbach) der Rahmenbedingungen gemeint ist, die den Übergangszeitraum organisieren und strukturieren sollen.
Breiten Applaus aus den Reihen der anwesenden Logopäden und Sprachtherapeuten, aber auch aus dem übrigen Plenum bekam Lauterbachs Zustimmung zur Vollakademisierung der Logopädie/Sprachtherapie, wie sie auch Bund und Länder im Gesamtkonzept Gesundheitsfachberufe vorschlagen. Dass der eingeschlagene Weg zur Akademisierung der Therapieberufe der richtige ist, dazu bekannte sich anschließend auch Dr. Oliver Grundei, Staatssekretär im Ministerium für Justiz und Gesundheit in Schleswig-Holstein. Im Anschluss an Lauterbachs Videobotschaft stellte er sich in der Entscheidungsfrage nach der Voll- oder Teilakademisierung für die Physiotherapie hinter den Bundesminister und sprach sich für die Teilakademisierung für diese Berufsgruppe aus, vor allem mit Blick auf die Größe der Berufsgruppe. Ausdrücklich aber mit dem Hinweis versehen, dass es sich dabei um eine Einschätzung „Stand jetzt“, also nicht um das „Ende der Fahnenstange“ handele.
„Wir haben internationale Rahmenbedingungen, die so herausfordernd sind, wie wahrscheinlich seit Ende des zweiten Weltkriegs nicht mehr.“ (Dr. O. Grundei)
Was bedeutet es für die Reform der Berufsbilder und die interprofessionelle Zusammenarbeit, wenn wir Versorgung neu denken?
Den ersten Teil der Podiumsdiskussion eröffnete dann Markus Algermissen, Bundesministerium für Gesundheit. Von Moderatorin Sabine Rieser direkt auf die konkreten Umsetzungsschritte angesprochen, mit denen der angekündigte Gesetzentwurf „auf die Staße gebracht“ (M. Algermissen) werden soll, kam das Gespräch schnell bei den großen Themen an. Von den Vertretern des SHV wurde vor allem die Legitimierung der Teilakademisierung in der Physiotherapie als pragmatische, da jetzt machbare Zwischenlösung mit dem Gegenargument gekontert, sie trage dazu bei, „den Systembruch in Europa zu stabilisieren“ (A. Pfeiffer).
Nur für einige ein Widerspruch: Die SHV-Vertreter stellten fest, dass eine Unterscheidung zwischen einer hochschulischen und fachschulischen Ausbildung mit Blick auf die Therapieprozesse nicht funktional sei. Interesse weckte Algermissen mit seiner Aussage, dass „ein wesentlicher Unterschied perspektivisch bei den diagnostischen Kompetenzen liegen wird“.
Einigkeit herrschte beim Thema Durchlässigkeit. Bei der Umsetzung der Teilakademisierung in der Physiotherapie müsse unbedingt und in alle Richtungen gewährleistet sein, dass auch Menschen mit mittleren Bildungsabschlüssen ermöglicht wird, ein Studium aufzunehmen. Nur so kann dieser Schritt wirksam dazu beitragen, den Fachkräftemangel abzubauen. Die Teilakademisierung, so Algermissen auf die Anschlussfrage, ob und wie genau Versorgung dabei neu gedacht wird, sei kein harmloser „Trippelschritt“, sondern vielmehr „der Einstieg in eine reguläre hochschulische Physiotherapieausbildung“. Es sei dieser Schritt, der „eine bessere Grundlage schafft, um Interprofessionalität zu fördern“, die eben nicht nur zwischen Ärzten und akademisierten Angehörigen der Gesundheitsfachberufe möglich sein darf. Diese „neu gedachte“ Interprofessionalität auf Augenhöhe bejaht und fordert im Einvernehmen mit den anderen Podiumsteilnehmern auch Dr. med. Ellen Lundershausen (Bundesärztekammer), die in diesem Kontext auch sehr gelassen auf das angebliche Reizthema Direktzugang blickt. Was hier aus Ärztesicht interessiert, ist vor allem die Qualifizierung, die erkennbar, also transparent sein muss. Daneben spielen Fragen der Haftung und der Budgetverantwortung eine Rolle. Sind diese Fragen geklärt, spricht nichts gegen eine vertrauensvolle Zusammenarbeit, ohne die das „System am Ende auch gar nicht funktioniert.“ (Dr. med. E. Lundershausen)
„Mit dem pragmatischen Schritt stabilisieren wir den Systembruch in Europa.“ (A. Pfeiffer)
„Unterschiedliche Bildungsabschlüsse lassen sich mit der Teilakademisierung besser in die Versorgung integrieren, als über die Vollakademisierung.“ (M. Algermissen)
„Akademisierung ist nicht die allseligmachende Antwort auf den Fachkräftemangel“ (M. Algermissen)
„Die Teilakademisierung ist aus unserer Sicht schon das richtige Stichwort.“ (M. Algermissen)
„Ganz große Unterschiede zwischen fach- und hochschulischer Ausbildung sind in der Physiotherapie gar nicht möglich.“ (M. Algermissen)
„Wir wollen den Beruf des Masseurs und des medizinischen Bademeisters erhalten und in die Zukunft tragen.“ (M. Algermissen)
„Der Direktzugang bildet im Gesamtkontext ein kleines Mosaiksteinchen bei der Neuordnung von Kompetenzen.“ (M. Algermissen)
„Interprofessionelle Zusammenarbeit darf kein Ehrenamt sein.“ (U. Repschläger)
„Wir schaffen eine Zwei-Klassen-Physiotherapie, wenn wir sagen, die einen dürfen den Direktzugang machen, die anderen nicht.“ (U. Repschläger)
„Wenn wir nicht mit den anderen Gesundheitsberufen zusammenarbeiten, können wir als Ärzteschaft überhaupt nicht arbeiten.“ (Dr. med. E. Lundershausen)
„Das Wort, das mir bis hierhin am besten gefällt: pragmatisch. Pragmatische Lösungen sind mir in diesem Kontext die liebsten.“ (Dr. med. E. Lundershausen)
„Es reicht nicht aus, die interprofessionelle Zusammenarbeit mit den Füßen in die Praxen zu tragen. Wir brauchen stabile Rahmenbedingungen, die den Prozess anleiten und professionalisieren.“ (K. Schubert)
Die Therapieberufe verlieren an Attraktivität – woran liegt das?
Nicht weniger kontrovers ging es im zweiten Teil weiter. Hier stand zunächst die Vergütungsfrage im Mittelpunkt: Inwieweit trägt die Unzufriedenheit mit dem Gehalt zum Attraktivitätsverlust und den häufigen Berufsausstiegen in den Therapieberufen bei? Sehr viel, wie sich zeigt, denn im Vergütungsranking mit anderen Berufen, auch im medizinischen Bereich, „bildet die Physiotherapie das einsame Schlusslicht.“ (M. Pintarelli-Rauschenbach) Auch Stamm-Fibich war der Meinung, dass zu einer „vernünftigen Behandlung auch eine adäquate Bezahlung“ gehört. Zu dem misslichen Vergütungssituation kommen unangenehmeRahmenbedingungen, zu denen verschiedene Kostensteigerungen im Praxisbetrieb ebenso gehören wie der immense bürokratische Aufwand, der nicht vergütet wird. Die Prüfpflicht oder das Einziehen der Zuzahlungen beispielsweise müssen „politisch geprüft und ggf. abgeschafft werden.“ (D. Karrasch) Zustimmung kam von der Bundestagsabgeordneten Saskia Weishaupt (BÜNDNIS 90/Die Grünen), die anerkennt, dass es in Zeiten der Teuerung nicht ausreicht, allein auf die Vergütung zu schauen, wenn deren Steigerung direkt der Inflation zum Opfer fällt. Ein zweiter Punkt betraf die Vergleichbarkeit der Gesundheitsberufe. Auch hier äußerte sich Weishaupt kritisch mit Blick auf unser „Arzt-zentriertes System in Deutschland“, das dazu führt, dass wir sehr gut ausgebildete Fachkräfte in den Gesundheitsfachberufen haben, die mehr können, als sie am Ende dürfen. Das heißt, hier liegt Potential für eine leistungsangemessene Vergütung sowie mehr Autonomie für die Berufsangehörigen in der Therapie. „Die Vorgaben zur Auswahl der Therapie und der Behandlungszeit verhindern viel zu häufig, dass die Therapeut*innen ihre Expertise voll entfalten und ihre Kompetenz anwenden können“, bentont Pintarelli-Rauschenbach.
Beim Thema Behandlungszeit kam dann schnell die Überarbeitung der Leistungsbeschreibung ins Spiel. Die Forderungen der Heilmittelerbringer für bessere Rahmenbedingungen liegen seit langem auf dem Tisch: Mehr Flexibilität bei der Behandlungszeit, Anerkennung von Diagnostik und Befundung als „elementare Bestandteile der physiotherapeutischen Arbeit“ (H. Hecker) und die effizientere Anwendung von gelernten Kompetenzen und digitalen Hilfsmitteln. Ändert sich der Rahmen durch eine Anpassung der Leistungsbeschreibung, so die klare Haltung auf dem Podium, erreichen wir eine Aufwertung der Berufe – finanziell und ideell.
Im Spitzenverband der Heilmittelverbände (SHV) e.V. haben sich die sechs größten Berufsverbände der Heilmittelbranche zusammengeschlossen: Deutscher Bundesverband für Logopädie (dbl), Deutscher Bundesverband für akademische Sprachtherapie und Logopädie (dbs), Deutscher Verband Ergotherapie (DVE), Bundesverband selbstständiger Physiotherapeuten (IFK), Deutscher Verband für Physiotherapie (PHYSIO-DEUTSCHLAND) und Verband für Physiotherapie (VPT).
„Bei der Gehaltdiskussion wird oft vergessen, woher wir kommen. Trotz Erhöhungen liegen wir im Vergleich mit den anderen Gesundheitsfachberufen weit hinten.“ (M. Pintarelli-Rauschenbach)
„Bürokratischer Aufwand, der bei uns abgelegt wird, muss entweder abgeschafft oder vergütet werden.“ (D. Karrasch)
„Wir sind an veraltete Rahmenbedingungen gebunden, die nicht den Standards entsprechen, die wir bieten könnten, wenn wir es düften.“ (D. Karrasch)
„Wir müssen uns darüber Gedanken machen, wie wir unser Gesundheitssystem ausrichten wollen. In Deutschland denken wir noch immer sehr Arzt-zentriert.“ (S. Weishaupt)
„Wie schaffen wir es, den Menschen, die wir bereits gut ausgebildet haben, eine Perspektive aufzuzeigen? Wo wollen wir hin in der Versorgung? Hier hat die Politik noch einiges zu tun.“ (S. Weishaupt)
„Die Überarbeitung der Leistungsbeschreibung und eine angemessene Vergütung der abgegebenen Leistung sind mehr als überfällig.“ (H. Hecker)
Der Therapiegipfel wird jährlich vom SHV als hochkarätig besetzte Podiumsdiskussion veranstaltet, um gemeinsam im Dialog mit Vertretern aus Wirtschaft, Politik und der Kassen Kernforderungen der Branche an die politischen Entscheidungsträger in Berlin zu richten.
An dieser Stelle können Betroffene oder interessierte Eltern bzw. Angehörige von sprach- und sprechgestörten Menschen Sprachtherapeut:innen in ihrer Nähe finden.
Exklusiv für dbs-Mitglieder:
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