Delphine auf dem Tennisplatz: Aphasietherapie zeigt Wirkung

Akademische Sprachtherapeuten fordern auf dem 7. wissenschaftlichen Symposium des dbs die Anerkennung wirksamer Therapien. Wissenschaftler und Gesundheitspolitiker sagen Unterstützung zu.

 

von: Ulrike de Langen-Müller

 

Sprachtherapie ist für ca. zehn Prozent sprachentwicklungsgestörte Kinder in Deutschland und etwa 100.000 Menschen mit erworbenen Sprachstörungen ein gesetzlich verankertes Heilmittel. Die Finanzierung von Sprachtherapien ist jedoch in Zeiten knapper Kassen ständig in Gefahr, weil manche Kostenträger ihre Effektivität in Frage stellen. Sprachtherapeuten und Wissenschaftler präsentieren auf dem Symposium des Deutschen Bundesverbandes der akademischen Sprachtherapeuten (dbs) in Potsdam die Bedingungen wirksamer Sprachtherapien und fordern deren Anerkennung. Uni Potsdam und MdB Wodarg schlagen gemeinsame Forschungsprojekte mit dem dbs vor.

 

 

„Derzeit hält es die Gesundheitspolitik mit den drei Affen: nichts hören, nichts sehen und bloß nicht darüber sprechen. Für verlässliche Zusagen zur kontinuierlichen und hochqualitativen Versorgung der uns anvertrauten sprachbeeinträchtigten Klientel ist in keiner der verantwortlichen Parteien zurzeit jemand zu finden“, so der 1. Vorsitzende des Deutschen Bundesverbandes der akademischen Sprachtherapeuten (dbs), Volker Maihack. Während Maihack den derzeitigen gesundheitspolitischen Entscheidungsstillstand der großen Koalition unter Zuhilfenahme der an sich als geschäftig bekannten Primaten beklagt, wünscht Wolfgang Wodarg, MdB, Ausschuss für Gesundheit und soziale Sicherung, und Mitglied der Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“, in seiner Begrüßungsansprache jeder Interessensgruppe ihren Delphin im Haifischbecken des Gesundheitswesens, der den behutsamen Transport ans Ufer gewährleiste. Die rund 400 anwesenden Sprachtherapeuten und Wissenschaftler dürften sich geschmeichelt fühlen durch die Parallele zu dem gutmütigen, intelligenten Säugetier mit dem guten Orientierungssinn. Organisiert in ihrem Berufsverband verstehen akademische Sprachtherapeuten sich nämlich durchaus als Lotsen für Kollegen und Betroffene.

 

Den Wissensstand ihres Faches zusammenzutragen und der Öffentlichkeit den Nutzen von Sprachtherapie nahe zu bringen, war auch das Anliegen des wissenschaftlichen Symposiums „Aphasietherapie zeigt Wirkung“, das Ende Januar in Potsdam stattfand, organisiert vom dbs zusammen mit dem Institut für Linguistik der Universität Potsdam unter der Federführung der Patholinguistin Jenny Postler und ihres Organisationsteams. Jeder zweite Schlaganfallbetroffene und jeder fünfte Patient mit Schädelhirntrauma leidet bleibend unter einer Aphasie. Mühsam, Wort für Wort, müssen sich Menschen mit Aphasien die Sprache wieder erarbeiten. Dass ihnen professionelle Sprachtherapie dabei helfen kann, wenn sie intensiv und häufig genug durchgeführt wird, wissen Therapeuten aus eigener Erfahrung und aus internationalen Studien. Sprachtherapie ist für Menschen mit Aphasie ein entscheidender Bestandteil ihrer Rehabilitation. Dennoch gefährden Sparmaßnahmen im deutschen Gesundheitswesen die Finanzierung von Sprachtherapien. Zweifel an ihrer Wirksamkeit werden angeführt, wenn die Verordnung von Sprachtherapie der Sorge um Budget und Richtgrößen zum Opfer fällt. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse, wie zum Beispiel die Effektivität von hochfrequenter Intervalltherapie, passen nicht in das Korsett bestehender Vertragsstrukturen. „Das Symposium hat gezeigt, unter welchen Bedingungen Sprachtherapien bei Aphasie am wirkungsvollsten sind. Dazu gibt es bereits mehr gesichertes Wissen als Kostenträger und auch manche Ärzte annehmen. Therapien werden theorie- und patientenbezogen vorbereitet, durchgeführt und ausgewertet“, so Ria De Bleser, Professorin am Institut für Linguistik und Referentin des Symposiums. Viele auch mit öffentlichen Geldern geförderte Forschungsprojekte untersuchen, wie das menschliche Gehirn Sprache verarbeitet. Die Ergebnisse werden in der Entwicklung von Untersuchungs- und Behandlungsverfahren bei Aphasie direkt umgesetzt. Auf Einladung des dbs sprachen neun weitere Referenten aus Forschung, Praxis und Politik über den aktuellen Wissensstand. Der Rektor der Universität Potsdam, Wolfgang Loschelder, unterstützte die Forderung der Organisatoren und Teilnehmer nach einer akademisch und wissenschaftlich begründeten Sprachtherapieforschung in Deutschland.

 

Wolfgang Wodarg, Schirmherr der Veranstaltung, ließ aufhorchen, als er die Krankenkassenbeiträge als Spenden bezeichnete, die für den Wettbewerb zwischen Solidargemeinschaften missbraucht würden. Sinnvolle und kostengünstige Programme zur Behandlung chronischer Krankheiten fehlten, aus Angst, mit ihnen die „falschen“, nämlich teuren Versicherungskunden anzuwerben. So würden 20 - 30.000 € im Jahr für die medikamentöse Rheumatherapie aufgewendet, aber wirkungsvolle kostengünstige Präventions- und Unterstützungsmaßnahmen in den Bereichen Bewegung und Ernährung nicht propagiert. Auch Sprachtherapie, obwohl nur mit zehn Prozent an den Ausgaben im Heilmittelbereich beteiligt, zu denen auch Ergo- und Physiotherapie gehören, werde zur Verfügungsmasse. Das Land schreibe sich kostspielige Stammzellentherapie auf die Fahnen, anstatt Sprachtherapie als indirekte Hirnzellentherapie zu fördern. Und anstatt öffentliche Gesundheitsvorsorge und Sprachförderung zum Beispiel aus Steuergeldern auf Unterhaltungselektronik zu finanzieren, werde über steigende Kosten lamentiert und Förderung gestrichen. Hier seien Veranstaltungen wie das wissenschaftliche Symposium des dbs, auf dem die Ergebnisse der Therapieforschung zusammen- und an die Öffentlichkeit getragen werden, nur zu begrüßen. Barbara Giel, Sprachheilpädagogin vom Institut für Sprachtherapieforschung Moers, gab eine systematische Übersicht über die Inhalte und Anforderungen der Evaluationsforschung. Sie warb um differenzierte Therapieevaluation und öffnete die Augen für den langen Atem, den die Entwicklung und Implementierung von Leitlinien für die Sprachtherapie dem Berufsverband und den Fachvertretern abverlangen wird. Zugleich empfahl sie aber auch ausreichenden Respekt vor Normgrößen, die der Kalkulation im Gesundheitswesen dienen sollen.

 

Nicole Stadie, Institut für Linguistik der Universität Potsdam, zeigte den meist klinisch tätigen Therapeuten im Auditorium anschaulich und anhand eines Fallbeispiels wie und mit welchen Methoden, sie Therapieevaluation in den Alltag integrieren können. Auch wenn systematische Evaluierung an Praxistagen mit zahlreichen Therapiesitzungen nicht für jeden einzelnen Patienten realistisch ist, kann sie aber mit Hilfe der dargestellten Vorgehensweise für einzelne Patienten durchgeführt werden. Stadie machte deutlich, dass eine differenzierte Planung und Strukturierung vor Beginn der ersten Therapiesitzung sich im Verlauf der Therapie immer als Erleichterung bezahlt macht.  

Eindrucksvolle Beispiele sauber geplanter und durchgeführter Therapiestudien lieferten Astrid Schröder vom Institut für Linguistik der Universität Potsdam sowie Sabine Corsten und Markus Mende von der Klinik für Neurologie der Technischen Hochschule Aachen. Diese Vorträge bewiesen, dass Grundlagenforschung Therapiestoff liefert. Nur, wer sich deren Methoden bedient, wird auch im Alltag die Wirksamkeit von Aphasietherapie nachweisen können. Schröder räumte am Beispiel der agrammatischen Satzproduktion bei Aphasie auch noch mit einem therapeutischen Klischee auf: nicht immer muss vom Einfachen zum Schwierigen vorgegangen werden. In ihrer Therapie des Agrammatismus war die Übung mit anspruchsvollen Strukturen der richtige Auslöser für Lernerfolg. Corsten und Mende zeigten am Sprachverarbeitungsmodell, wo Aussprache störbar ist und dass bereits durch die systematische Strukturierung des Therapiematerials störungsspezifisch gearbeitet werden kann.

 

Marcus Meinzer, Klinischer Psychologe von der Universität Konstanz, forderte das intensive Üben alltagsrelevanter Verhaltensformen bei Aphasie. Gleichsam dem hochfrequenten Üben von Bewegungsfolgen eines Tennisschülers, der die Weltrangliste anstrebe, müsse auch der Aphasiker Sprachstrukturen für die Kommunikation mit hoher Intensität üben. Nach einer kommunikativen Sprachtherapie mit 30 Stunden in 10 Tagen konnte für Patienten mit chronischer Aphasie ein Langzeiteffekt nachgewiesen werden, der nach einer Therapie mit derselben Anzahl therapeutischer Sitzungen verteilt über 6 Monate ausblieb. „Mit der in der Ambulanz üblichen Therapiefrequenz ist das Rehapotential bei einem Großteil chronischer Aphasiker nicht ausgeschöpft“, resümiert Meinzer die Befunde seiner Arbeitsgruppe.

 

Mit den neurophysiologischen Aspekten sprachlicher Rehabilitation befasste sich Annette Baumgärtner, Klinik für Neurologie der Universität Hamburg. Mithilfe funktioneller bildgebender Verfahren gelang ihrer Arbeitsgruppe der Nachweis unterschiedlicher Hirnaktivitätsniveaus in den verschiedenen Phasen der Rehabilitation. Die Diskussion, ob die zeitweise spontane Hochregulierung nach einem temporären Verlust der Funktion eher als günstiger oder ungünstiger Moment für sprachliche Intervention zu interpretieren ist, blieb freilich spekulativ.

 

Eine Bewertung von Therapieerfolg ganz anderer Art gab Helmut Teichmann. Der Professor für Philosophie ist seit mehr als fünf Jahren selbst von Aphasie betroffen. Manchmal ringt er noch nach Worten und die Sätze finden nicht immer das Ende, welches ihr Anfang ihnen vorgeschrieben hätte. Man merkt ihm die Anstrengung an, aber auch die Freude über die zu großen Teilen zurückeroberte Redegewandtheit vor einem Auditorium. Teichmann arbeitet an einer neurologischen Reha-Klinik in Kreischa bei Dresden in der Beratung von Aphasikern und ihren Angehörigen und ist in der Selbsthilfe des Bundesverbandes für die Rehabilitation der Aphasiker engagiert. In seinen Ausführungen erhebt er den Aphasiker, seinen Angehörigen und den Therapeuten zur Dreieinigkeit, weist aber auf deren Konkurrenzinteressen hin. Nicht immer entspräche die Logik der Therapie auch der Logik des Alltags von Betroffenen. Die größten Fehler, die in der Sprachtherapie passieren könnten, seien die Vernachlässigung sozialer und kommunikativer Aspekte und die Ignoranz von Patientenbedürfnissen.

 

Wenn Betroffene ihre Maßstäbe anlegen, ist das wohl die härteste Prüfung, der Sprachtherapie unterzogen werden kann. Dass Sprachtherapeuten sie nicht scheuen, zeigte die abschließende Podiumsdiskussion. Kritisch nahmen die Sprachtherapeuten und Wissenschaftler die Vorträge und ihre eigene Arbeit ins Visier. Fazit: Nicht immer ist die am einfachsten messbare Wirkung von Aphasietherapie auch die für den Betroffenen nützlichste. Dass sprachstrukturelle Verbesserungen differenziert messbar geworden sind, ist ein großer Erfolg der kognitiven Neurolinguistik und der Aphasieforschung. Weitgehend unbefriedigt bleibt zurzeit aber noch das Evaluationsbedürfnis der kommunikationsorientierten Therapeuten. Und als bislang kaum messbar erweisen sich die Bedürfnisse der Betroffenen. Schade, dass die Terminkalender der geladenen Kassenvertreter deren Teilnahme nicht zuließen. Sie hätten vernehmen müssen, dass ihr Klischee von Therapieevaluation weit hinter dem herhinkt, was Aphasietherapie zu erbringen im Stande ist und dass ihre Ansprüche an diese nur wenig Deckung mit denen der Betroffenen aufweisen. De Bleser formuliert mit ihrem Vorschlag, die Vorher- und Nachheruntersuchung der Spontansprache ernster zu nehmen, erste Inhalte für ein gemeinsames Forschungsprojekt von Uni Potsdam und dbs. Auch MdB Wodarg hatte den dbs schon dazu aufgefordert, gemeinsam mit Politik und Kostenträgerseite die richtigen Forschungsfragen zu bearbeiten. Mit bewegenden Worten dankt Teichmann im Namen aller Betroffenen den bisherigen Leistungen der Sprachtherapie.

 

Angeregt durch zahlreiche kompetente, praxisrelevante und zielgruppenorientierte Informationen gehen die Teilnehmer auseinander. Mit den ihnen anvertrauten Patienten in Gedanken fühlen sie sich vielleicht ein wenig wie Delphine - entschlossen, sie in der nächsten Übungssituation nach den Maßstäben der jeweiligen persönlichen Weltrangliste fit für’s nächste Alltags-Match zu machen.

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